Englisches Sonett – Analyse und technischer Kommentar
von Umberto F. M. Cefalà
Einleitung
Der folgende Text ist ein englisches Sonett (oder Shakespeare-Sonett), eine Gedichtform, die aus drei Quartetten und einem abschließenden Couplet besteht, also aus vierzehn Zeilen im jambischen Pentameter, d. h. zehnsilbigen Zeilen mit einem rhythmischen Akzent alle zwei Silben. Dieses im 16. Jahrhundert in England eingeführte Schema unterscheidet sich vom italienischen oder petrarkischen Sonett, das stattdessen aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht und einem strengeren Reimschema folgt (ABBA ABBA CDC DCD oder ähnlich).
Ein wesentlicher Aspekt ist die unterschiedliche Silbenzählung: Im italienischen Versmaß werden die metrischen Silben gezählt (unter Berücksichtigung von Synalephe, Trema und festen rhythmischen Akzenten auf der elften Silbe), während im Englischen die Anzahl der betonten Silben freier gezählt wird. Der jambische Pentameter wechselt zwischen unbetonten und betonten Silben (˘ ´) und erzeugt so einen natürlichen, konversationellen Rhythmus. Aus diesem Grund unterscheiden sich der italienische Halbsilben- und der englische Pentameter, obwohl sie metrisch gleichwertig sind, in ihrer prosodischen Struktur.
Text
I wake with tender dreams in foreign speech,
I remember days and home in distant lands
Or muse on words of fathers, vain to teach.
Time passed like broken hourglasses’ sands.
I go to work, dividing thought two ways,
But all my feelings cling together still.
What choice is mine if bound to busy days?
A bounden fate must breed a bitter ill.
By nightfall I have no breath to speak,
I find my mind all tangled, dim, unread,
But I have climbed as far as heart’s peak
And so I’m an explor’r toward the expanse spread.
As in all life, when plants find fresher ground,
They bear such fruit as never yet were found.
Umberto F. M. Cefalà
Übersetzung
Ich erwache mit zärtlichen Träumen in einer fremden Sprache, ich erinnere mich an Tage und Heimat in fernen Ländern, oder ich sinniere über die Worte meiner Väter, die sinnlos zu lehren sind. Die Zeit ist vergangen wie der Sand einer zerbrochenen Sanduhr. Ich mache mich an die Arbeit und teile meine Gedanken in zwei Richtungen, doch all meine Gefühle sind noch vereint. Was bleibt mir anderes übrig, als an geschäftige Tage gefesselt zu sein? Ein unausweichliches Schicksal muss bitteren Schmerz erzeugen. Als der Abend hereinbricht, fehlt mir der Atem zum Sprechen, mein Geist ist verworren, dunkel, unerforscht, doch ich habe den Gipfel des Herzens erklommen, und so bin ich ein Entdecker der Weite, die sich mir bietet. Wie im Leben, wenn Pflanzen kühlere Erde finden, tragen sie Früchte wie nie zuvor.
Kommentar und technische Analyse
Metrik und Struktur
Das Sonett folgt dem klassischen englischen Sonettformat mit drei Quartetten und einem abschließenden Couplet. Das Reimschema ist ABAB CDCD EFEF GG. Das Versmaß ist jambischer Pentameter, was dem Rhythmus des Verses einen fließenden und meditativen Charakter verleiht. Die Verwendung von Komposita und Kontraktionen wie z. B. „explor'r“ verstärkt die Musikalität und erhält das Metrum.
Themen und Inhalte
Das zentrale Thema ist die innere Reise eines Menschen, der fern der Heimat lebt und sich mit seiner Identität in einem fremden Kontext auseinandersetzt. Die ersten Quartette beschreiben Nostalgie und die Zersplitterung des Denkens („das Aufteilen des Denkens in zwei Richtungen“), aber auch die Beständigkeit der Gefühle. Im Verlauf der Verse steigt die poetische Stimme hin zu einer inneren Versöhnung: Die tägliche Arbeit wird zum Werkzeug des Wachstums.
Symbolik und rhetorische Figuren
- Reisemetapher: Der Dichter ist ein „Entdecker“, nicht nur von Ländern, sondern auch von sich selbst – ein Symbol der inneren Erkundung.
- Oxymoron: „dunkel, ungelesen“ verkörpert die Spannung zwischen geistiger Dunkelheit und dem Wunsch nach Erkenntnis.
- Naturbild: Die letzten beiden Zeilen („Pflanzen finden frischeren Boden“) stehen für Wiedergeburt und spirituelle Fruchtbarkeit, den Höhepunkt der Hoffnung, der das gesamte Gedicht durchdringt.
- Parallelismus: Das Verb „finden“ kehrt als semantisches Echo wieder und vereint Erkundung, Arbeit und Wachstum.
Interpretation
Das Sonett folgt einem Bogen von Emotionale Transformation: von anfänglicher Entfremdung zu neuem Selbstbewusstsein. Das abschließende Couplet besiegelt diese Reise mit der natürlichen Metapher der Regeneration: So wie Pflanzen in neuem Boden besser Wurzeln schlagen, kann auch die menschliche Seele unter neuen Lebensbedingungen erblühen. Der Schlusston ist von Hoffnung und Wiedergeburt geprägt und bildet einen positiven Abschluss einer Reise, die mit Unbehagen und Distanz begann.